Kann Künstliche Intelligenz Lehrer ersetzen? Schüler des Willms-Gymnasiums wagen das deutschlandweit erste Experiment mit einem KI-Roboter als Moderator. Trotz technischer Pannen zeigt das Projekt Potenziale – und lässt einen spannenden Blick auf die Zukunft der Bildung erahnen.
Schulunterricht ganz ohne Lehrer – an diesem Experiment haben sich am Dienstag Schüler des Willms-Gymnasiums versucht; nach eigenen Angaben als erste Schule deutschlandweit. Der mit Künstlicher Intelligenz (KI) ausgestattete Roboter „Captcha“ führte durch mehrstündige Diskussionsrunden. Neben der Moderation gewichtete der Humanoid die vorgetragenen Argumente und kürte einen Sieger.
Zunächst erklärte Captcha den Schülern seine Funktionsweise. „Der Mensch liest die Wörter, um sie zu verstehen“, erläuterte der Roboter beispielsweise. Die KI dagegen müsse die Texte in sogenannte Token zerlegen. Verkürzt beschrieben ist sie dadurch in der Lage, Texte in kleine Dateneinheiten zu zerlegen und diese in eine Beziehung zu setzen. Dadurch ist sie in der Lage, auf Basis von Wahrscheinlichkeiten und des antrainierten Informationsschatzes Antworten zu generieren. Den Text dann in Sprache zu verpacken, entspreche einer elektronischen Simulation. Doch könne er nicht komplex denken wie ein Mensch.
Auf diese Weise beantwortete Captcha schließlich Fragen der Schüler aus dem Seminarfach der KI. Ob die Roboter klüger sind als Menschen? „In Bezug auf die Verarbeitung von Informationen und das Gedächtnis“, erwiderte Captcha. Der Mensch sei dagegen weiterentwickelt, könne besser Probleme lösen und verstehe Emotionen. „Ich kann eure Bücherei sein“, fasste er zusammen.
Wegen dieser Unzulänglichkeiten eigne sich die KI auch nicht als Ersatz von Lehrkräften, sondern viel mehr zur Unterstützung und als Ergänzung. „Lehrer stellen emotionale Verbindungen her und fördern das kritische Denken“, nannte Captcha zwei Aspekte. Künstliche Intelligenz könne das mit faktenbasierten Informationen und theoretischen Konzepten flankieren – als Zugang zu einer Bücherei, für individuelles Feedback und personalisierte Empfehlungen. In dieser Kombination könnten Schüler, Lehrer und KI als „perfektes Team“ zusammenarbeiten.
In den anschließenden Diskussionsrunden thematisierten die Schülergruppen verschiedene Aspekte einer Gesellschaft, in der KI eine immer größere Bedeutung zukommt. Sollte sie Geld verdienen und ausgeben dürfen? Dürfen humanoide Roboter Beziehungen zu Menschen aufbauen beziehungsweise simulieren und sogar heiraten? Bedeutet der Einsatz von KI vor allem Chancen für die Menschheit oder sogar das Ende der Welt? Aufgeteilt in Pro- und Kontra-Teams trugen die Schüler jeweils ihre Argumente vor.
Interessiert verfolgte auch Lehrer Klaas Wiggers das Experiment. Er unterrichtet neben Mathematik und Geschichte das Seminarfach Künstliche Intelligenz in den Jahrgängen zwölf und 13. „Wir sind am Anfang eines Prozesses“, sagte er. Für die Schule sei es sensationell, in diesem Stadium Einblicke in den aktuellen Stand der Technologie zu erhalten, in der so viel Potenzial stecke. Das in einem spielerischen und praktischen Ansatz mit einer Diskussionsrunde über Stärken und Schwächen der Künstlichen Intelligenz zu verknüpfen, sei ein vielversprechendes Format: „Es ist wichtig, die Schüler diskutieren zu lassen. Das ist eine wichtige Kompetenz.“
Für Wiggers zeigte sich in dem Praxisversuch auch, wie wichtig Transparenz in Bezug auf die intelligenten Roboter ist. Schließlich kürte Captcha nach den Diskussionsrunden einen Sieger, erläuterte seine Entscheidung allerdings nur bedingt. „Die Schüler haben den Wunsch, das zu verstehen“, kommentierte Wiggers. Erst daraus resultiere Vertrauenswürdigkeit.
Monica Mesaros betrachtete das als spannende Erfahrung. Die 18-jährige Willms-Schülerin ist Mitgründerin der Berufsorientierungsinitiative „I make AI“, die Anfang des Jahres ins Leben gerufen wurde. Ihr sei klar gewesen, dass die KI die Moderation nicht perfekt übernehmen werde, doch habe es schon gut geklappt. „Das war sehr interessant“, bilanzierte sie. Seniz Tiryaki, ebenfalls Mitgründerin der Initiative, freute sich, dass auch auf Englisch eine lebhafte Debatte zustande kam. „Das sind eigentlich schwierige Themen“, merkte sie an.
Dass noch nicht alles perfekt lief, störte die Schüler wenig. Gelegentlich spuckte Roboter Captcha komplett unverständliche Tonfetzen aus oder ging nur sehr bedingt auf die Aussagen der Schüler ein. Genauso stiftete er Verwirrung, wenn er sich mitten in der Diskussion plötzlich zu Wort meldete. Zwischenzeitlich stürzte sein Programm ab und benötigte einen Neustart. Auch der rechte Arm des Humanoiden fiel zweimal aus seiner Verankerung und musste wieder montiert werden. „Das bringt eine Art von Humor mit“, fand Schülerin Tiryaki und Mesaros pflichtete bei: „Das löst die Spannung.“ Für die Schüler sei es aufregend gewesen, bei einem solchen Experiment auf Englisch und unter medialer Begleitung teilzunehmen.
Auch für Maschinenbaudesigner Tinnix Ho war das Experiment eine komplett neue Erfahrung. Er hat das Unternehmen Hidoba Research mitgegründet und Captcha mitentwickelt. Für den Tag ist er extra aus Mailand angereist, nachdem der Kontakt zum Willms auf einer KI-Konferenz in Genf geknüpft worden war. „Für uns war das eine komplett neue Sache und wir wussten nicht, was dabei herauskommt“, verriet er. Insgesamt sei er durchaus zufrieden, etwa wie Captcha nach Beweisen für Argumente fragte oder auf Schwächen hinwies. Doch habe das KI-Modell noch nicht ausreichend verstanden, was in seiner Umgebung passiere, das müsse verbessert werden. Er unterstütze die Schulen gerne bei solchen Experimenten, um herauszufinden, in welchen Bereichen der Einsatz von KI denkbar und sinnvoll sei. „Es gibt nicht genügend Lehrer, um jedem einzelnen Schüler Aufmerksamkeit zu widmen“, sagte er. KI könne hier als Roboter oder digitaler Lernbegleiter helfen.
Darauf setzt auch Lehrer Wiggers. „Das ist eine große Chance für die Bildungsgerechtigkeit“, sagte er. Bereits jetzt gebe es vielversprechende Möglichkeiten, etwa aus den eigenen Lernmaterialien einen Podcast zu generieren und tutorielle Lernsysteme zu nutzen. „Man kann gerade nicht absehen, was in zwei Jahren passiert“, merkte er mit Blick auf die rasanten Entwicklungen an. Bei Schülern ebenso wie bei Lehrkräften sei das Interesse daran groß, zumal in der Arbeitswelt bereits jetzt schon vermehrt auf KI gesetzt werde. „Da verschiebt etwas. Das ist eine Grundkompetenz und sie wird in der Schule nicht ausreichend abgebildet“, merkte er an. Deshalb seien die Schulen gefordert, die Initiative zu ergreifen und sich zu professionalisieren.
Mit diesen Entwicklungen Schritt zu halten, sah Willms-Schulleiter Stefan Nolting als Herausforderung. „Wie das Berufsleben unserer Schüler aussehen wird, können wir nur erahnen. Wir wissen, dass es zu 80 Prozent von KI bestimmt wird“, sagte er. Entsprechend müsse die heranwachsende Generation mit den mathematischen, rechtlichen und gesellschaftswissenschaftlichen Kompetenzen ausgestattet werden – und Lehrer sich ebenfalls damit auskennen. Hier müssten die Schulen proaktiv handeln. „Bildungspolitik ist ein Supertanker“, merkte Nolting an und zog den Vergleich: „KI ist ein Schnellboot.“ Als eine von bundesweit 300 MINT-EC-Schulen nehme das Willms mit seinem Schwerpunkt auf KI hierbei eine führende Rolle ein.