Vor knapp fünf Jahren, als die Vortragsreihe „Begegnungen“ im Willms-Gymnasium begann, referierte der ehemalige Bundesverfassungsrichter Professor Udo Di Fabio zum Zustand anlässlich des 65. Jahrestages der Verabschiedung des Grundgesetzes über dessen Verfassung. Nun, da das Werk 70 Jahre alt wurde, war mit Professor Doktor Ferdinand Kirchhof, ehemaliger Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts, am Dienstagabend erneut ein ehemaliger Verfassungsrichter zu Gast im Forum der Schule.
Vor mehr als 100 Gästen gab auch er eine Einschätzung über den Zustand des Grundgesetzes ab. „Provisorien halten am längsten“, bilanzierte Kirchhof, schließlich habe es nur ein Statut für die Zeit der Teilung sein sollen. Rückblickend sei dieses Werk ein wahrer Glücksfall gewesen, auch wenn sich die Bevölkerung zunächst wenig dafür interessiert habe. Doch: „Es war zur richtigen Zeit der richtige Text.“ Die Akzeptanz sei dann in den 50er und 60er Jahren gestiegen.
Immer wieder kam der einstige Verfassungsrichter dabei auf die klare Formulierung des Textes zu sprechen. Beispielhaft nannte zitierte er aus Artikel 14: „Eigentum verpflichtet“. Eben solche Abschnitte seien klar formuliert, doch gleichzeitig zukunftsoffen formuliert, sodass man es innerhalb dieses Rahmens weiterentwickeln könne. Auch die Rechtsstaatlichkeit sei angesichts der Willkür, die während der NS-Diktatur herrschte, stark betont, ebenso die Individual- und Grundrechte. „Man wusste genau, was man nicht wollte“, sprach Kirchhof von einer Mischung aus Angst und Hoffnung, unter der das Grundgesetz entstanden sei. Mit dem Instrument der Verfassungsbeschwerde habe zudem jeder die Möglichkeit, eben diese Rechte einzufordern – und wisse um einen starken Partner in Karlsruhe, wo das Bundesverfassungsgericht seinen Sitz hat.
Ungewöhnlich sei es gewesen, dass es keine Volksabstimmung über das Grundgesetz gab, räumte Ferdinand Kirchhof ein. „Aber die Legitimation kam mit der Zeit“, betonte er; spätestens mit der Aufnahme der neuen Bundesländer und der Änderung des Artikel 23 habe sich die Bevölkerung klar dafür entschieden. Das Prinzip der Bundesstaatlichkeit habe sich bewährt, auch wenn es Zeit, Geld und Aufwand koste. Dafür gebe es eine Machtverteilung und gegenseitige Kontrolle. In diesem Zuge mahnte Kirchhof allerdings, zu viele Kompetenzen auf Bundesebene zurückzuholen, wie es derzeit erneut der Fall sei. Als Beispiele führte er die Hochschulgesetze oder die Digitalisierung an Schulen mit Bundesmitteln auf: „Da sind wir auf Rückschritt.“
Trotz aller Vorzüge, die das nunmehr 70 Jahre alte Werk bietet – so manche Sorgenfalte legt sich trotzdem in Kirchhofs Stirn, wenn er darüber referiert. Vor allem mit Blick auf die Europäische Union: „Brüssel entwickelt ein Eigenleben“, sagte er und sprach von einer okkupativen Vorgehensweise. Dabei sei es der Union nicht gelungen, die Bürger für sich zu gewinnen. Auch der Europäische Gerichtshof solle nicht etwa zu Fragen von Integration oder Religion urteilen, wenn die Systeme in den Mitgliedstaaten unterschiedlich seien. Bedenken äußerte er auch mit Blick auf zunehmend private Infrastrukturen, die global agierende Konzerne wie Facebook oder Google anböten. „Es gibt keinerlei Schutz durch den Staat. Das Grundgesetz wirkt nur im nationalen Bereich“, hob der ehemalige Verfassungsrichter hervor. Als offene Flanke sehe er zudem, dass es keine Verfassungsvorschriften zu Sozialversicherungen gebe. Der Klimaschutz lasse sich dagegen kaum nur mit dem Grundgesetz bewerkstelligen, hierfür benötige es europarechtliche, supranationale Lösungen.
Als er sich den Fragen von Schulleiter Stefan Nolting und Thorsten Prange, Vorsitzender Richter am Landgericht Bremen, sowie des Publikums stellte, betonte er auch noch einmal, dass das Grundgesetz nicht nur eine bewährte Vergangenheit, sondern auch eine aussichtsreiche Zukunft habe. Dafür müsse die Bevölkerung das Grundgesetz auch weiterhin mittragen. Um das zu gewährleisten, sei er durchaus für die Einführung direktdemokratischer Elemente: das helfe der Identifikation mit dem Staat.