‘Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt’, steht auf einem der roten Pappkartons, die sich einer der Schüler umgeschnallt hat. Auf einem anderen liest man: ‘Alle Deutschen haben das Recht, Beruf, Arbeitsplatz und Ausbildungsstätte frei zu wählen. Die Berufsausübung kann durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes geregelt werden.’ Überall in der Innenstadt sieht man solche Zitate, verordnet nach Artikeln und Absätzen – eben dort, wo man sie im Grundgesetz findet – aufgeschrieben auf roten Papp-Boxen, die sich die Jugendlichen wie Kleidung übergestreift haben. Aber nicht nur mit den Auszügen aus dem Schriftwerk machen die Schüler an diesem Mittag auf das Grundgesetz aufmerksam.
Die ganze Innenstadt erstrahlte am Donnerstag in Rot und Weiß, als tausende von Kindern und Jugendlichen in eben diesen Farben gekleidet den Marktplatz und die Lange Straße in Delmenhorst stürmten, um gemeinsam das 70-jährige Bestehen des Deutschen Grundgesetzes zu feiern. Als Stephan Weil, Niedersächsischer Ministerpräsident, schließlich in der Innenstadt ankam, ließen die Schüler 500 rote und weiße Luftballons in den Himmel aufsteigen, ehe sie alle persönlich dem Ehrengast die Hand schütteln oder schnell das ein oder andere Selfie schießen wollten.
Anschließend stellten sich die Schüler und zahlreiche weitere Bürger auf, um die „womöglich längste Menschenkette Deutschlands“ zu bilden, wie Stefan Nolting, Schulleiter vom Willms-Gymnasium und damit Initiator der ganzen Aktion, es ausdrückte. Einmal komplett die Lange Straße entlang reihten sich die Menschen aneinander, schickten eine La-Ola-Welle die Straße entlang und applaudierten anschließend dem Grundgesetz und natürlich auch dem Ehrengast.
„Mit der Demokratie ist das so eine Sache“, äußerte sich der Ministerpräsident zu dem festlichen Anlass zu Wort. Sie funktioniere nur, wenn sie auch von Demokraten gelebt werde. Der für ihn bedeutendste Artikel des Grundgesetzes: ‘Die Würde des Menschen ist unantastbar.’ „Dieser Satz bringt es genau auf den Punkt“, sagte Weil. Der Ministerpräsident lobte auch noch einmal die ganze Aktion und bedankte sich auch bei dem Gymnasium an der Willmsstraße sowie der Stadt Delmenhorst für die gelungene Feier. „Das war beispielhaft für Demokratie“, sagte er. Und auch Willms-Schulleiter Stefan Nolting zeigte sich begeistert: „Um die Verfassung zu feiern, muss man sich zeigen. Dafür muss man auf die Straße gehen“, sagte er und ergänzte: „Stephan Weil ist nicht nur Landesvater, sondern auch Verfassungsenthusiast.“ Das habe man an diesem Tag deutlich gemerkt.
Weil zeigte sich in Delmenhorst ganz bürgernah und mischte sich mitten unter die Schülerschar, nachdem er zuvor bereits mit einigen von ihnen am Gymnasium an der Willms-Straße diskutiert und geduldig ihre Fragen beantwortet hatte. Dabei ging es um Themen wie Sozialen Wohnungsbau oder auch um die VW-Krise. Die Schüler scheuten sich dabei auch nicht, durchaus kritisch nachzuhaken. „Das war sehr interessant“, erzählten die beiden Schülersprecher Isabell Sindermann und Niko Hustede nach der Fragerunde. Weil habe offen und ehrlich geantwortet, in der Kürze der Zeit konnten aber letztlich nicht alle Fragen überhaupt gestellt werden. „Aber wir haben nochmal die Gelegenheit, eine Diskussion mit ihm zu führen“, zeigte sich Hustede erfreut. Denn nach seinem Besuch sprach Weil auch noch eine Gegeneinladung aus und schlug vor, die Schüler demnächst irgendwann im Niedersächsischen Landtag zu begrüßen. „Das werden wir natürlich wahrnehmen“, erklärte Hustede.
Gelebte Demokratie zeigten auch die Schüler des Max-Planck-Gymnasiums anlässlich des 70-jährigen Bestehens des Grundgesetzes. Der bilinguale Politikkurs des neunten Jahrgangs hatte sich dazu entschlossen, von der durch das Grundgesetz verliehenen Freiheit tatsächlich und praktisch Gebrauch zu machen, statt nur darüber im Unterricht zu sprechen. Sie äußerten Kritik an einer Formulierung in Artikel 3, Absatz 3 des Grundgesetzes: ‘Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden’, heißt es dort.
In einer Petition fordern die Schüler nun die Streichung des Wortes „Rasse“ – ein Begriff, der in Deutschland insbesondere durch den Nationalsozialismus stark vorbelastet ist. Aber die Schüler stören sich auch generell an dem Begriff, denn alle Menschen seien letztendlich über zahlreiche Ecken miteinander verwandt, die genetischen Unterschiede minimal. Es gebe letztlich nur eine einheitliche menschliche Rasse, argumentieren die Schüler. Gemeinsam mit ihrem Politiklehrer Stephan Ditze und Michael Gripentrog, pensionierter Chemie- und Biologielehrer, machten sich die Schüler schließlich daran, eine Petition zu formulieren, die die Forderung aufstellt, die Begriffe „rassisch“ und „Rasse“ komplett aus dem Grundgesetz zu streichen oder alternativ durch den Begriff „Ethnie“ zu ersetzen.
„Dass die jungen Menschen damit auf die Verantwortung der Gesellschaft verweisen, das Grundgesetz nicht nur als gegeben hinzunehmen und unkritisch zu feiern, sondern es aktiv zu leben und mitzugestalten, zeigt unvergleichlich eindrücklich, dass Unterricht und Lebenswelt Hand in Hand gehen und unsere Schüler Verantwortung übernehmen, wenn man sie denn lässt“, teilt Sarah Mänz vom Presseteam des Maxe mit.
Ziel der Schüler ist es nun natürlich, möglichst viele Menschen dazu zu bringen, sich mit ihrer Forderung zu beschäftigen und diese für die Problematik des Terminus zu sensibilisieren. Die Petition stellten die Politik-Schüler an diesem Donnerstag auch bereits ihren Mitschülern vor und übergaben sie der SPD-Bundestagsabgeordneten Susanne Mittag. Auch online ist die Petition verfügbar und kann unterzeichnet werden. Sie ist über die Homepage der Schule unter maxe-online.de zu finden.
Darüber hinaus beteiligte sich das Max-Planck-Gymnasium an diesem Donnerstag auch an der Juniorwahl im Vorfeld der Europawahl, bei der die Schüler der Jahrgänge acht bis elf zur Urne traten. Vorab hatten die Schüler dazu bereits in ihren Politikkursen Parteien und Wahlprogramme thematisiert. Die Juniorwahl selbst beinhaltet die gleichen Wahlmöglichkeiten wie bei der Europawahl am Sonntag, alle erhielten im Vorfeld eine Wahlbenachrichtigung und eine Wahlkommission aus Zehntklässlern leitete die Wahl letztlich. Die Stimmen werden nun ausgewertet und am kommenden Montag nach der Europawahl veröffentlicht.